Aktuell in der CR

Bekommt die Erschöpfung durch die BGB-Reform Eselsohren? (Witte, CR 2022, 209)

Eine Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung zur Erschöpfung des Verbreitungsrechts bei Software, eBooks und sonstigen digitalen Produkten im Lichte der DiD-Richtlinie

Das urheberrechtliche Verbreitungsrecht und seine Grenzen (§ 17 UrhG) sind aufgrund der hierzu erlassenen Richtlinien ein Stück europäisches Recht, das wiederum nach der Rechtsprechung des EuGH anhand der Vorschriften der Art. 6 und 8 WCT sowie Art. 8 WPPT auszulegen ist. Die zu § 17 UrhG entwickelten Auslegungsgrundsätze finden wegen des Gebots einheitlicher Auslegung auch auf § 69c UrhG, der lex specialis für Computerprogramme ist, Anwendung. Auch online, also unkörperlich bezogene Werkstücke von Computerprogrammen können nach der Rechtsprechung des EuGH inzwischen unter den Verbreitungsbegriff fallen, wenn Eigentum (weiter Begriff) an ihnen übertragen wird.

Die unkörperliche Übertragung von Kopien anderer Werkarten wird dagegen wegen Art. 4 der InfoSoc-Richtlinie 2001/29, im deutschen Recht aktuell durch die Einfügung von § 15 Abs. 2 Nr. 2 und § 19a UrhG umgesetzt, ohne weiteres dem Recht der öffentlichen Zugänglichmachung unterstellt. Da sich letzteres anders als bei der Verbreitung nicht erschöpft, ist fraglich, ob – und wenn ja, in welchen Fällen – eine Erschöpfung des Verbreitungsrechts bei der Veräußerung digitaler Kopien anderer Werkarten wie eBooks oder hybrider Werke überhaupt eintreten kann. Dabei könnten aufgrund berechtigter Verbrauchererwartungen an den Umfang der möglichen Nutzung auch der neue, erweiterte Mangelbegriff der DiD-Richtlinie und die „Abweichungsbefugnis“ eine Rolle spielen.

INHALTSVERZEICHNIS:

I. Wie alles begann

II. Bisherige Rechtsprechung deutscher Gerichte zu eBooks

III. Rechtsprechung des EuGH

1. Vereiniging Openbare Bibliotheken

2. Nintendo

3. Tom Kabinet

IV. Die Einordnung eines Angebots als Verbreitung oder öffentliche Wiedergabe

1. Gemeinsamkeiten beider Nutzungsarten

2. Nicht übertragbares Nutzungsrecht als eigenständige Nutzungsart?

3. Begriff der Öffentlichkeit

a) Das Schicksal der Kopie bestimmt der „Lizenzgeber“

b) Zeitpunkt der Löschung

V. Einfluss der DiD-Richtlinie

1. Berechtigte Verbrauchererwartung

a) Deutsche Rechtsprechung vor der UsedSoft-Entscheidung

b) Inhaltskontrolle nach der UsedSoft-Entscheidung

2. Ermittlung der Verbrauchererwartung

3. Die Reichweite eines Nutzungsrechts als Rechtstatsache

4. Rolle technischer Schutzmaßnahmen

5. Preismodell und Abnutzung

6. Zwischenergebnis

VI. Folgen für die Ausgestaltung von Angeboten digitaler Produkte

VII. Fazit
 


Leseprobe:

"I. Wie alles begann

Am 7.6.2000 bejahte der BGH die zuvor kontrovers diskutierte Frage, ob sich das Verbreitungsrecht beim Vertrieb von Software nach § 69c Nr. 3 Satz 2 UrhG bei der Weiterveräußerung, also auf zweiter Stufe erschöpfe 1 . Da der Online-Vertrieb von Software damals noch nicht relevant war, war nicht abzusehen, dass derselbe Streit 7 Jahre später noch einmal aufkeimen würde, diesmal aufgehängt an der Frage, ob all das – jedenfalls aus Sicht der Befürworter einer weit auszulegenden Schrankenbestimmung – Erreichte nur für verkörperte oder auch für digital per „Download“ hergestellte Werkstücke gelte 2 . In der UsedSoft-Entscheidung bejahte der EuGH 3 dies im Jahr 2012 und brachte damit Rechtsklarheit, jedenfalls für den Weitervertrieb „gebrauchter“ Software.
 
II. Bisherige Rechtsprechung deutscher Gerichte zu eBooks
Bei den deutschen Untergerichten zeichnete sich die Tendenz ab, einen solchen Gleichlauf bei der Unterscheidung gedruckter Bücher von E‑Books abzulehnen. Dabei waren sie durchaus bemüht, bei der Einordnung der Nutzungshandlung die Differenzierung zwischen § § 15 Abs. 2 Nr. 2 UrhG und § 17 Abs. 1 UrhG richtlinienkonform durchzuführen. Begründet wurde die Ablehnung der Erschöpfung einmal damit, dass die Computer-RL als lex specialis nur auf Software anwendbar sei, die Weitergabe von eBooks wegen der hier einschlägigen InfoSoc-RL trotz vergleichbarer Konstellation keine Verbreitungshandlung darstelle, sondern eine öffentliche Wiedergabe . Zum anderen unterstellten die Gerichte, ohne dass die DiD-Richtlinie damals im Blickfeld gestanden wäre, einen Vertragsinhalt, der auf ein nicht übertragbares Nutzungsrecht gerichtet war, wobei sich die eingeschränkte „Lizenz“ bzw. das Weitergabeverbot stets aus AGB-Klauseln ergab (hierzu Rz. 29 f.).
 
III. Rechtsprechung des EuGH
Zwischenzeitlich liegen mehrere Entscheidungen des EuGH vor, die die Unterschiede bei der Nutzung verkörperter bzw. unkörperlicher Werkstücke von Büchern betreffen.
 
1. Vereiniging Openbare Bibliotheken
Zum einen ist das die Entscheidung im Fall „Vereiniging Openbare Bibliotheken“, die das Vermiet- und Verleihrecht aus der RL 2006/115/EG betrifft. Dort hatte der EuGH die befristete Entleihe legal erworbener einzelner Kopien digitaler Bücher durch eine öffentliche Bibliothek unter das Verleihrecht (als Schrankenbestimmung) subsumiert, soweit technisch sichergestellt wurde, dass immer nur eine Kopie heruntergeladen werden konnte 5 . Das Verleihrecht sei zwar eng auszulegen, aber bei wirtschaftlicher Betrachtung sei die digitale Ausleihe der gedruckten Ausleihe ähnlich 6 . Das wurde als Argument für einen Gleichlauf beider Buch-Versionen gewertet 7 .
 
2. Nintendo
Bei der Nintendo-Entscheidung 8 ging es darum, welche der beiden Richtlinien (RL 2001/29 oder RL 2009/24) auf hybride Werke anwendbar sei, was jedenfalls nach Auffassung des EuGH in seinen späteren Entscheidungen die entscheidende Weiche dafür stellt, ob im konkreten Fall eine Verbreitungshandlung mit der Folge der Erschöpfung des Verbreitungsrechts oder eine öffentliche Wiedergabe ohne diese Folge vorliegt. Vordergründig war die Frage zu beantworten, welche Reichweite der in Art. 6 Abs. 1 RL 2001/29 (im deutschen Recht § 95aUrhG) normierte Umgehungsschutz hat. Dazu musste aber erst einmal geklärt werden, welche Richtlinie bei Videospielen anwendbar ist. Der EuGH definierte Videospiele als komplexe Gegenstände, die nicht nur Computerprogramme, sondern auch grafische und klangliche Bestandteile umfassen, die, auch wenn sie in einer Computersprache kodiert sind, einen über die Codierung hinausgehenden eigenschöpferischen Wert besitzen 9 . Der EuGH entschied, dass die Spezialität der Software-Richtlinie 2009/24 sich nur unmittelbar auf Computerprogramme beziehe, während Teile eines aus verschiedenen Werkkategorien bestehenden Gesamtwerks „an dessen Originalität teilhaben“ 10 . Soweit der EuGH bei dieser Aussage auf die Infopac-Entscheidung 11 Bezug nimmt, hilft dies nicht weiter, weil es dort um die Frage der Urheberrechtsfähigkeit von Wortschnipseln im Verhältnis zum Gesamtwerk der gleichen Werkart ging. Wieso der EuGH den Schwerpunkt eines Computerspiels nicht in dessen Software, sondern in den graphischen und musikalischen Elementen sieht und nicht umgekehrt, erschließt sich aus der Entscheidung nicht. Offen bleibt auch, wie sich gemeinfreie, anderweitig nicht schutzfähige oder – zumindest theoretisch – abgelaufene Elemente auf das Gesamtwerk auswirken. Ebenso wenig erschließt sich daraus, ob der EuGH eine Schwerpunktlehre anwenden will oder nicht 12 .

Folge: Auf hybride Werke ist entweder das Recht der Werkart anzuwenden, die den Schwerpunkt bildet, oder aber das Recht einer jeden einzelnen Werkkategorie. Entschließt sich der EuGH nicht für eine der beiden Alternativen, könnte zukünftig praktisch alles, was nicht nur aus einem Computerprogramm im engeren Sinn besteht, je nach wirtschaftlicher Betrachtung im Einzelfall den stärkeren Schutz der InfoSoc-RL genießen. Das würde dann erst recht für eBooks gelten, bei denen ein eventuell beigefügtes Computerprogramm nur eine untergeordnete, akzessorische Rolle spielt 13 . Für die Rechtsinhaber würde dies bedeuten, dass jede Anreicherung von Computerprogrammen mit Grafiken und Musik automatisch in den Schutzbereich der InfoSoc-RL führen und den Erschöpfungsgrundsatz für Computerprogramme obsolet machen würde. Eine Beurteilung jeder einzelnen Werkart nach ihrem eigenen Recht wäre bei hybriden Werken rechtssicherer und auch gerecht. Eine Infektion von Werkteilen mit einem „fremden“ Recht wäre dagegen sachfremd, weil sie für einen Werkteil, der isoliert ganz anders zu betrachten wäre, ohne gesetzliche Grundlage ein neues Recht schafft. All dies ist dann noch mit der berechtigten Verbrauchererwartung im Rahmen des Art. 8 DiD-RL 2019/770 in Einklang zu bringen (vgl. Rz. 39 ff.).
 
3. Tom Kabinet
In der Entscheidung Tom Kabinet bestätigte der EuGH 14 seine ablehnende Auffassung mit dem Hauptargument, …"

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 15.04.2022 12:04

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